Die Medizinwissenschaft unterscheidet mehr als 800 verschiedene neuromuskuläre Krankheiten. Wie der Name sagt, betreffen sie sowohl Nerven als auch Muskeln. Manche wirken sich auf den ganzen Organismus aus, andere betreffen nur bestimmte Körperregionen. Ihrer Vielzahl zum Trotz kommen sie zum Glück nur relativ selten vor. Die betroffenen Patienten leiden häufig an großen Einschränkungen ihrer Beweglichkeit. Denn bei aller Vielfalt der Ursachen und Verläufe haben diese Krankheiten eines gemeinsam: die oft fortschreitende Muskelschwäche (Muskeldystrophie).
„Wenn die Muskelschwäche sich in den Beinen manifestiert, wird das Gehen immer schwerer, und irgendwann funktioniert es ohne Stützen gar nicht mehr“, erklärt Mohamed Bouri, Leiter der Forschungsgruppe für Rehabilitation und Assistenzrobotik (REHA Assist) an der Technischen Hochschule von Lausanne in der Schweiz (EPFL). „Die Muskeln funktionieren zwar noch, aber sie bringen nicht mehr genügend Kraft für einen stabilen Stand oder eine eigenständige Beinbewegung der Patienten auf. Das hat natürlich enormen Einfluss auf Bewegungsradius und Lebensqualität. Ähnliches gilt für die Auswirkungen einer halbseitigen Lähmung nach einem Schlaganfall. Unser Ziel war es, diese Einschränkungen so weit wie möglich zu überwinden, und zwar mit Hilfe einer motorisierten Hilfsvorrichtung, bei der auch der Beitrag des Patienten zu seinen eigenen Bewegungen genutzt wird.“
Teilunterstützung in Leichtbauweise
Der Forschungsgruppenleiter verweist auf bisher verwendete Exoskelette mit einer von Humanoiden inspirierten Technologie. Diese Hilfsmittel ermöglichen es Querschnittsgelähmten, ohne Krücken zu gehen, aber sie wiegen mehr als 40 Kilogramm.
Der von REHA Assist entwickelte „Autonomyo” ist mit nur 25 Kilogramm deutlich leichter und arbeitet unter Einbeziehung des geschwächten, aber noch teilweise funktionierenden Bewegungsapparats des Patienten.
Das Gerät ist mit einem Korsett am Rumpf sowie mit Manschetten an den Beinen des Benutzers befestigt. Auf jeder Seite liefern drei Motoren die Kraft, die den Muskeln für die Bewegung fehlt. Je einer ist für Beugung und Streckung von Hüfte und Knie zuständig, ein weiterer Motor für das Knie. Der dritte Motor unterstützt die Abduktion und Adduktion des Beins im Hüftgelenk, also die seitliche Bewegung des Beins von der Körper-Mittelachse weg. Alles in Allem helfen die Motoren dem Patienten, sowohl das Gleichgewicht zu halten als auch aufrecht zu gehen. In einer jüngst durchgeführten klinischen Studie, an der auch gehbehinderte Personen teilnahmen, hat Autonomyo wie vorgesehen funktioniert: Das Exoskelett bot Unterstützung und erlaubte zugleich Bewegungsfreiheit entsprechend den Absichten der Benutzer. Der Bewegungsumfang der Gelenke und die Gangkadenz wurden dabei nicht negativ beeinflusst.
Rückkopplung von magnetischem Messsystem
Es ist absolut entscheidend, dass das Gerät den Gang entsprechend der Absicht des Benutzers unterstützt. „Der erste Auslöser für eine Positionsänderung – also zum Losgehen – drückt sich in einer kleinen Veränderung der Position der unteren Gliedmaßen aus“, erläutert Mohamed Bouri. „Wir erkennen dies, indem wir die Informationen von einer Trägheitsmesseinheit, acht Lastsensoren an den Fußsohlen und den Encodern der Motoren, die als Gelenkpositionssensoren dienen, miteinander kombinieren. Alle diese Daten tragen zur Unterstützung des Gleichgewichts bei.” Beim Gehen ist die Interaktion zwischen dem Gerät und seinem Benutzer entscheidend. Ein von FAULHABER entwickelter Drehmomentsensor erfasst diese Wechselwirkung und setzt so die Unterstützungsstrategie präzise um.
„Das Projekt, einen präzisen Drehmomentsensor in einen Motor zu integrieren, begann vor einigen Jahren mit dem Ziel, Anwendungen wie Cobotics (kollaborative Robotik) für sichere Mensch-Roboter-Interaktionen voranzutreiben“, erläutert Frank Schwenker, Gruppenleiter für Advanced Engineering bei FAULHABER. „Mit Autonomyo können wir das Konzept nun zum ersten Mal in einer anspruchsvollen Unterstützungstechnologie-Anwendung umsetzen.“
Die herkömmliche Technik zur Drehmoment-Erfassung verwendet Dehnstreifen auf Komponenten, die von der einwirkenden Kraft verformt werden. Ihr konstruktiver Schwachpunkt ist die Klebeverbindung, mit der sie dort aufgebracht sind. Die Entwickler im Advanced Engineering haben sie durch ein hochauflösendes magnetisches Messsystem ersetzt.
„Damit erreichen wir im Messbereich von plus-minus 30 Newtonmeter eine Abweichung von weniger als 1,5 Prozent“, betont Frank Schwenker. „Der Sensor liefert also einen hochpräzisen Wert des Reaktionsmoments in der Gehbewegung.“
Der Wert hat eine zentrale Bedeutung für die Steuerung des Exoskeletts von Autonomyo, in die natürlich zahlreiche weitere Größen einfließen. „Die Anpassung des Geräts an den einzelnen Patienten erfordert eine sehr differenzierte Kalibrierung des Gesamtsystems“, erläutert Mohamed Bouri. „Anhand der verschiedenen Parameter und der Rückkopplung aus der Bewegung errechnet die Software die Steuersignale an die Antriebe. Art und Umfang der Unterstützung durch die Motoren werden dann auf Basis dieser Informationen bestimmt.”
Antriebsleistung und Entwicklungspotenzial
Die insgesamt sechs Antriebseinheiten pro Gerät stammen von FAULHABER. Ihr Kernstück ist der bürstenlose Motor 3274 BP4 mit 32 Millimeter Durchmesser. In seiner Größenklasse bietet er die höchste Leistung, die auf dem Markt verfügbar ist. Seine Kraft wird von einem Planetengetriebe 42 GPT mit einer speziell für diese Anwendung gefertigten Welle übertragen. Ein magnetischer Encoder IE3 liefert die Positionsdaten an die Steuerung. Der Drehmomentsensor ist in den Getrieben der vier Motoren für die Flexions- und Extensionsbewegungen integriert.
Die Anforderungen an die Antriebseinheiten sind typisch für Kleinmotoren der Spitzenklasse. Große Leistung beim kleinstmöglichen Volumen und Gewicht, Präzision, Zuverlässigkeit und lange Lebensdauer gehören zu den wichtigsten Eigenschaften in dieser Anwendung. „Die Suche nach dem passenden Lieferanten war nicht besonders schwierig“, erinnert sich Mohamed Bouri.
„Wir hatten die Spezifikationen definiert, und da war die Auswahl der in Frage kommenden Motoren schon sehr überschaubar. Die fakultätsübergreifende Astrophysik-Forschungsgruppe unserer Universität arbeitet bereits mit FAULHABER zusammen, sodass sie überzeugende Empfehlungen aussprach, und es bestand bereits eine gute Beziehung. Hinzu kam, dass FAULHABER bereit und in der Lage war, den Drehmomentsensor in kürzester Zeit zu entwickeln. Das war sehr wichtig für unser Projekt.“
Die Komponente gehört vorerst nicht zu den Serienprodukten und wurde bisher nur für die EPFL in kleiner Stückzahl gefertigt. Entwicklungsingenieur Frank Schwenker kann sich aber eine Reihe von weiteren Einsatzgebieten vorstellen: „Die hochauflösende Drehmomentmessung kann in allen haptischen Anwendungen einen großen Mehrwert bringen. Das gilt zum Beispiel für alle Arten von Roboterassistenz im Operationssaal, wo der Chirurg das Instrument führt und die Maschine für Kraft und Präzision sorgt. Der Sensor kann aber auch eine Schutzfunktion übernehmen und zur Drehmomentbegrenzung verwendet werden. Außerdem ist er perfekt für die Dokumentation in der Qualitätssicherung geeignet, überall dort, wo sehr genaue Drehmomentwerte nachgewiesen werden müssen.“